Drei von vier Arbeitgebern sind davon überzeugt, dass die emotionale Intelligenz (EI) ihrer Mitarbeiter in den nächsten Jahren einen wichtigen Faktor für den Unternehmenserfolg darstellen wird. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie “Emotional intelligence – the essential skillset for the age of AI”, die das Capgemini Research Institute durchgeführt hat. Vor diesem Hintergrund ist es jedoch unverständlich, dass so wenige Arbeitgeber diesen Aspekt bei Neueinstellungen berücksichtigen.
Was ist emotionale Intelligenz?
Eine einheitliche Definition der emotionalen Intelligenz ist schwierig – sie beruht stets auf dem Kontext, in dem sie betrachtet wird. Klar ist jedoch: Es handelt sich um eine Kombination aus mehreren Charaktereigenschaften, die den Menschen dazu befähigen, andere zu verstehen und sich in ihre Lage zu versetzen. Typische Teilbereiche der emotionalen Intelligenz sind etwa:
- Selbstreflexion: Ist die Führungskraft in der Lage, die eigenen Stärken und Schwächen zu reflektieren und zu verstehen, welchen Einfluss sie damit auf ihre Mitarbeiter hat?
- Selbstkontrolle: Ist die Person in der Lage, ihre Impulse zu kontrollieren und ihre Emotionen zielgerichtet einzusetzen, um zum unternehmerischen Erfolg beizutragen?
- Selbstmotivation: Besitzt die Führungskraft die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren und handelt sie aus eigenem Antrieb?
- Empathie: Kann sie sich in andere Menschen hineinversetzen? Verfügt sie über eine gewisse Sensibilität für die Bedürfnisse anderer?
- Soziale Kompetenz: Ist die Person in der Lage, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und mit anderen zusammenzuarbeiten?
Erfolgreiche Führungsarbeit beruht niemals rein auf überdurchschnittlichen fachlichen Kenntnissen. Deutlich wichtiger ist die emotionale Intelligenz, die Führungskräfte dazu befähigt, selbstsicher und überzeugend aufzutreten, Mitarbeiter zu begeistern und zu motivieren und Optimismus auszustrahlen.
Fachkenntnis oder Emotionale Intelligenz? Was bei Einstellungen schiefläuft.
Bei der Einstellung von Führungskräften konzentrieren sich die meisten Arbeitgeber auf Fakten. Auf Führungserfahrung, Fachkenntnisse, erfolgreich abgeschlossene Projekte und berufliche Erfolge. Die emotionale Intelligenz hält jedoch kaum Einzug in Lebensläufe und wird auch in Vorstellungsgesprächen wenig thematisiert.
Die Folgen sind verheerend: Arbeitgeber stellen Führungskräfte ein, die die perfekte Qualifikation mitbringen und scheinbar optimal zur Vakanz passen. Nur wenig später folgt jedoch die Ernüchterung: Der neue Chef erscheint jähzornig, wenn es nicht nach seiner Vorstellung läuft, schafft keinen Teamzusammenhalt und trifft egoistische, nicht nachvollziehbare Entscheidungen. Führungskräfte werden deutlich häufiger wegen Charakterschwächen gekündigt als auf Grundlage mangelnder Fachkenntnisse.
Diese Entwicklung könnte verhindert werden – wenn Arbeitgeber bei der Einstellung neuer Führungskräfte der emotionalen Intelligenz denselben Stellenwert einräumen würden wie der fachlichen Passung.
Das Problem mit der mangelnden Messbarkeit
Der Grund, warum die emotionale Intelligenz so selten in Job-Interviews berücksichtigt wird, ist einfach: Sie lässt sich weder messen noch in Zahlen ausdrücken. Der Recruiter bewegt sich also weg von der sicheren, nachvollziehbaren Entscheidung auf der Basis von Fakten und hin zum Bauchgefühl, das auf der Grundlage von Emotionen entscheidet. Diese unsicheren Gewässer scheuen viele Recruiter und Führungskräfte und bleiben deshalb lieber auf der sicheren Seite.
Ein optimaler Kompromiss scheinen Testverfahren zu sein, mit denen sich die EI messen lässt. Doch egal, ob Selbsttest, professioneller Persönlichkeitstest oder 360°-Feedback – sie alle haben einen gewichtigen Nachteil: Sie lassen sich manipulieren. Bewerbertrainings und -coachings konzentrieren sich darauf, Bewerber auf solche Tests vorzubereiten. Heraus kommen zwar messbare und vergleichbare Werte. Sie spiegeln jedoch lediglich wider, wie sich der Kandidat gerne sehen würde, nicht aber, wie er wirklich ist.
Emotionale Intelligenz im Job-Interview identifizieren
Die Herausforderung ist also, den Kandidaten dazu zu bringen, seine Emotionen und Charaktereigenschaften offenzulegen. Das funktioniert sogar im klassischen Bewerbungsgespräch, solange der Recruiter bereit ist, seine Art der Fragestellung zu ändern. Eine sinnvolle Option ist das sogenannte Behavioral Event Interviewing: Die Technik ermöglicht es dem Fragenden, den Menschen detaillierter kennenzulernen, seine emotionalen Kompetenzen zu identifizieren und zu erfahren, wie er diese im Berufsleben einsetzt.
Kernelement des Behavioral Event Interviewings sind Fragen, die die Kandidaten dazu bringen, Situationen oder Erfahrungen aus ihren vorherigen Stellen zu beschreiben. Da sie sich auf solche Fragen nicht oder nur unzureichend vorbereiten können, erhöht diese Fragetechnik die Wahrscheinlichkeit, echte, weniger polierte Antworten zu bekommen.
Damit ein solches strukturiertes Interview erfolgreich ist, sollte der Recruiter sich auf jedes Vorstellungsgespräch vorbereiten und ein angenehmes Umfeld und eine lockere Atmosphäre schaffen, in der sich der Bewerber wohlfühlen und öffnen kann. Zum Einstieg stellt er zunächst einige Fragen, bei denen sich der Kandidat sicher fühlt, etwa zu seinen vergangenen Positionen und Aufgaben, seiner Ausbildung und Berufserfahrung. Danach stellt der Recruiter Fragen zu Situationen in der Vergangenheit, die Rückschlüsse auf die emotionale Intelligenz zulassen.
Fragen, die emotionale Intelligenz offenlegen
Doch welche Fragen sind konkret geeignet, den persönlichen Charakter eines Kandidaten offenzulegen? Sie beziehen sich stets auf fiktive Situationen oder tatsächliche Erlebnisse in der Vergangenheit und sind so formuliert, dass der Bewerber auf seine Gefühle eingehen muss. Typische Beispiele:
- Wie gehen Sie mit Herausforderungen um? Geben Sie ein Beispiel.
- Wie stark beeinflussen Erfolge und Misserfolge Ihre Stimmung?
- Haben Sie jemals einen Fehler gemacht? Wie sind Sie damit umgegangen?
- Welches Ziel haben Sie zuletzt erreicht? Erzählen Sie, wie Sie es erreicht haben.
- Beschreiben Sie eine unliebsame Entscheidung, die Sie treffen mussten, und wie Sie sie umgesetzt haben.
- Was tun Sie, wenn Sie sich mit einem Kollegen oder Mitarbeiter uneinig sind?
- Haben Sie schon einmal an mehreren Projekten gleichzeitig gearbeitet? Wie haben Sie sie priorisiert?
- Für welche Aufgaben können Sie sich begeistern und warum?
- Wie gehen Sie damit um, wenn es im Team Konflikte gibt?
Bereits die Art und Weise, wie der Kandidat solche Fragen beantwortet, lässt tief blicken und kann ein vielfältiges Bild von seiner emotionalen Intelligenz zeichnen.
Einblick in die Emotionale Intelligenz: Verhalten von Kandidaten interpretieren
Bereits vom ersten Moment des Eintreffens an zeigt der Bewerber seinen Charakter. Für den Recruiter lohnt es sich, zwischen den Zeilen zu lesen und auf das nonverbale Verhalten des Kandidaten zu achten:
- Steht der Kandidat zu seinen Schwächen oder Fehlern, statt diese unter den Teppich zu kehren?
- Welche Fragen stellt der Kandidat? Drehen sie sich mehr um den Inhalt der Arbeit oder etwa um das Verhältnis im Team und zu Vorgesetzten sowie zur Unternehmenskultur?
- Wie erzählt der Bewerber von Situationen in der Vergangenheit? Geht er auf seine Emotionen ein oder beschränkt er sich auf die sachliche Seite? Wie sehr geht er ins Detail?
- In welchem Verhältnis stehen emotionale und rationale Aussagen zueinander?
- Kann der Bewerber gut zuhören?
Natürlich lässt sich die emotionale Intelligenz eines Kandidaten auf diese Weise nicht in Zahlen ausdrücken. Aber der Recruiter kann sich ein umfassenderes Bild verschaffen, das über die fachliche Qualifikation weit hinausgeht. So findet er heraus, ob ein Bewerber auch im Hinblick auf seinen Charakter zum Unternehmen passt.
Das könnte Sie auch interessieren: