Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Der heute bereits bestehende Fachkräftemangel wird sich in den kommenden Jahren weiter zuspitzen. Bis 2035 stehen dem Arbeitsmarkt voraussichtlich rund 7 Millionen weniger Arbeitskräfte zur Verfügung. Eine Forderung, die in diesem Zusammenhang immer wieder von Ökonomen und Politikern aufs Tableau gebracht wird, ist die der 42-Stunden-Arbeitswoche. Die Überlegung: Wenn jeder Arbeitnehmende pro Woche nur zwei Stunden mehr arbeiten würde, könnte man damit im Durchschnitt bereits einen großen Teil des Verlustes ausgleichen. Doch geht diese Rechnung auf?
Verlängerung der Arbeitszeit: zwei fragwürdige Ansätze
Um aus den bestehenden Arbeitskräften mehr Arbeitszeit herauszuholen, gibt es zwei Ansätze. Zum einen könnte man das Renteneintrittsalter erhöhen und damit die Dauer der Erwerbstätigkeit verlängern. Zum anderen besteht die Möglichkeit einer höheren wöchentlichen Arbeitszeit, um so zusätzliches Potenzial für den Arbeitsmarkt zu generieren. Im Folgenden sollen beide Varianten genauer beleuchtet werden.
Erhöhung des Renteneintrittsalters: „Mit der Lebensrealität nicht zu vereinbaren“
Aktuell befinden wir uns bereits in einer Phase, in der das Renteneintrittsalter schrittweise erhöht wird. Bis zum Jahr 2029 steigt es auf 67 Jahre an. Ökonomen fordern, die Rente erst ab 70 Jahren zu gewähren. Dadurch würde der Arbeitsmarkt etwas Zeit gewinnen, und mit drei zusätzlichen Jahren bei jedem Arbeitnehmer ließen sich einige Ausfälle langfristig kompensieren.
Doch zum Renteneintrittsalter erteilte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil erteilte diesem Ansinnen bereits im vergangenen Jahr eine klare Absage. Er bezeichnete das Thema als eine Debatte, „die mit der Lebensrealität vieler Menschen in Deutschland nicht zu vereinbaren ist“. Kein Wunder: Man stelle sich nur den 70-jährigen Maurer im Winter auf der Baustelle vor. Oder die 68-jährige Verkäuferin im Supermarkt, die Regale befüllt. Es gibt gleich mehrere Gründe, warum die Rente mit 70 zumindest zum jetzigen Zeitpunkt keine Alternative ist:
- Schon heute erreichen viele ältere Arbeitnehmer die Regelaltersgrenze nicht. Das durchschnittliche Rentenalter liegt aktuell bei 64,1 Jahren.
- In vielen Betrieben gibt es gar nicht die Möglichkeit, ältere Arbeitnehmende einzusetzen, gerade an Arbeitsplätzen mit enormer körperlicher oder psychischer Belastung. Das zeigen auch die Arbeitslosenzahlen, die bereits ab einem Alter von Mitte 40 signifikant ansteigen und zwischen 53 und 58 Jahren ihren Höhepunkt finden.
- Gesundheitliche Einschränkungen werden ab 65 Jahren immer wahrscheinlicher. Dies kann hohe Krankenstände und damit eine Mehrbelastung für die Arbeitgeber bedeuten.
Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Faktor: die Motivation der betroffenen Beschäftigten. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zufolge sprechen sich nur 6 Prozent der Befragten für ein Renteneintrittsalter von 70 Jahren aus.
Verlängerung der Wochenarbeitszeit
Während die einen über die Einführung der in vielen anderen Ländern bereits als Pilotprojekt erfolgreich getesteten Vier-Tage-Woche diskutieren, spricht man in Deutschland über die Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden. Davon versprechen sich Experten eine Steigerung der Produktivität und einen gewissen Ausgleich des Fachkräftemangels.
Das Problem ist nur: Wer mehr arbeitet, ist nicht automatisch produktiver. In der Praxis wird eine Erhöhung der Arbeitszeit bei vielen Arbeitnehmenden lediglich einer Steigerung der Anwesenheitszeit bedeuten. Die Produktivität könnte sich sogar verschlechtern. Hinzu kommen mögliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Seit längerer Zeit steigen die Arbeitsunfähigkeitstage infolge psychischer Erkrankungen stetig an, wie der aktuelle DAK-Report zeigt: um 41 Prozent in zehn Jahren. In dieser Situation, die für viele Arbeitnehmende ohnehin bereits von Dauerstress, Druck und Überlastung geprägt ist, könnte eine Erhöhung der Arbeitszeit zu einer Verstärkung der Problematik führen.
Eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit widerspricht zudem allem, was sich gerade jüngere Altersgruppen heute von ihrem Arbeitgeber wünschen. Ihr Streben nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance (oder Work-Life-Blending) steht der angestrebten 42-Stunden-Woche entgegen.
Längere Arbeitszeiten für Teilzeitkräfte
Unter Teilzeitmitarbeitenden gibt es zwei Lager. Zum einen Arbeitnehmende, die in Teilzeit arbeiten, weil ihnen die Betreuungszeiten ihrer Kinder oder die Pflege von Familienangehörigen keinen größeren Umfang an Arbeitsstunden erlauben. Und zum anderen jene, die ohne äußeren Zwang in Teilzeit arbeiten, beispielsweise weil sie dem hohen Druck in ihrer vorherigen Vollzeittätigkeit nicht mehr standhalten konnten. Dieser resultiert häufig aus dem Personalmangel, sodass mehr Arbeit auf weniger Schultern verteilt wird.
Der Fokus der Bundesregierung ruht auf der Erwerbstätigkeit von Frauen, von denen viele wegen der Kinder ganz oder teilweise zu Hause bleiben. So gehen knapp fünf Millionen Frauen in Deutschland keiner Erwerbsarbeit nach und sind nicht auf der Suche nach einer Arbeit. Fast jede Zweite gibt als Grund die Betreuung der Kinder oder anderer Familienangehöriger an.
Aber: Studien zeigen, dass viele in Teilzeit arbeitende Mütter mit Kindern bis fünf Jahren bereit wären, ihre Arbeitszeit zu erhöhen, wenn die Rahmenbedingungen stimmten. Könnten sie so viel arbeiten, wie sie wollten, würde dies für den Arbeitsmarkt umgerechnet ein Plus von fast 840.000 Arbeitskräften bedeuten.
Um dieses Potenzial zu heben, müssten allerdings zunächst die geeigneten Rahmenbedingungen geschaffen werden. So könnten in typischen Frauenberufen wie beispielsweise in der Pflege familienfreundlichere Arbeitszeiten dazu beitragen, Teilzeitkräften die Vereinbarkeit mit der Familie zu ermöglichen. Die bestehenden Systeme mit langen Schichten sind viel zu oft ein Hindernis. Hinzu kommt der regional immer noch stark variierende Ausbau der Kinderbetreuung. Flächendeckende Angebote sind ebenso erforderlich wie eine zuverlässige Personaldecke in den Betreuungseinrichtungen, um häufige Schließzeiten zu vermeiden.
Alternative Konzepte, um dem Fachkräftemangel zu begegnen
Eine generelle Anpassung der Arbeitszeit für Vollzeitkräfte ist wenig Erfolg versprechend. Allenfalls die Steigerung der Wochenarbeitszeit bei Teilzeitkräften scheint enormes Potenzial zu bergen. Umso wichtiger ist es deshalb, auch andere Konzepte zu prüfen, die den Fachkräftemangel abmildern können. Hier gibt es verschiedene Ansatzpunkte, darunter:
- Arbeitszeitverkürzung: Pilotprojekte zeigen, dass durch die Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich die Produktivität häufig steigt. Die Unternehmen können zusätzliches Umsatzpotenzial heben – trotz geringerer Arbeitszeiten.
- Verbesserte Arbeitsbedingungen: In vielen Branchen, etwa in der Kranken- und Altenpflege oder in der Kinderbetreuung, könnte eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein schlummerndes Fachkräftepotenzial eröffnen. So arbeiten in der Pflege aktuell mindestens 300.000 Arbeitskräfte nur Teilzeit oder gar nicht, die sich unter bestimmten Voraussetzungen eine Rückkehr vorstellen könnten. Dazu müssten aber beispielsweise die Personalschlüssel verbessert oder der Gesundheitsschutz mehr forciert werden.
- Qualifizierung: Qualifizierungsmaßnahmen können helfen, Fachkräfte zu gewinnen (z. B. mittels Weiterbildung von derzeit als Pflegehelfern tätigen Personen zu Pflegefachkräften).
- Ausbildung: Die Zahl der Auszubildenden in klassischen Ausbildungsberufen stagniert bereits seit über 20 Jahren. Es gilt, die duale Berufsausbildung attraktiver zu machen – eine Aufgabe für die Bundesregierung.
- Zuwanderung: Auch über die gezielte Zuwanderung von Fachkräften erhofft sich die Bundesregierung, dem Fachkräftemangel zumindest teilweise begegnen zu können. Damit die Bemühungen fruchten, muss aber nicht nur die Einwanderung vereinfacht, sondern auch die Integration der Zugewanderten ermöglicht werden.
In der Summe wird keine der angesprochenen Maßnahmen allein den Erfolg bringen. Aber jeder Ansatz kann einen Beitrag dazu leisten, den drohenden Fachkräftemangel abzumildern.
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